Psychisch Kranke  
 

Die These von "Psychisch Kranken in der Umweltmedizin" erweist sich als haltlose Spekulation.

Zusammenfassung der Ergebnisse fünfjähriger gutachterlicher Arbeit

Seit 1995 wird von einigen Autoren systematisch vertreten, dass Umweltkrankheiten in vielen Fällen auf wahnhafter Einbildung basieren (Stichwort "Ökochonder"). Psychiatrische Diagnosen werden schriftlich gestellt. Nachfragen ergeben, dass manche Autoren noch keinen Umweltpatienten gesehen haben; in Text und Literaturapparat finden sich auch keine Studien, die solchen Diagnosen eine wissenschaftliche Basis verleihen könnten.

Gerechtfertigt werden solche Verlegenheitsdiagnosen mit der Behauptung, bei vielen Patienten sei der Umweltbezug nicht herzustellen. Die Autoren ignorieren aber die internationale wissenschaftliche Literatur zur Diagnostik und Therapie der Umwelterkrankungen oder rezipieren sie sehr selektiv. Sie ignorieren sogar die schulmedizinisch standardisierten und validierten Testverfahren der neuropsychologischen Toxikologie, die es erlauben, Psychogenese und Chemogenese zu unterscheiden.

Manche Artikel enthalten ernstgemeinte Vorschläge mit weitreichenden praktischen Konsequenzen. Rechtliche Konsequenzen im gutachterlichen Streit vor Gericht waren zu befürchten. Deshalb hat der Verfasser auf dem Wege der Korrespondenz bei den Autoren nachgefragt. Die Autoren konnten keine Nachbesserung anbieten. Nach nun fünfjähriger Existenz der spekulativen These muss sie als wissenschaftlich haltlos bezeichnet werden.

Im Deutschen Ärzteblatt wurden solche Spekulationen abgedruckt, als handelte es sich um fundiertes Wissen. Dies verleiht den Schein der Seriosität.


Die Beispiele

Psychisch Kranke in der Umweltmedizin von Hans Rüdiger Röttgers, Deutsches Ärzteblatt v. 31. März 2000

Bei "vielen Patienten" sei "trotz sorgfältiger Untersuchung" kein Umweltbezug zu erkennen. Wahnvorstellung sei deshalb die naheliegendste Diagnose. Die beste Therapie sei eine "sehr behutsame" Psychotherapie. Zu fordern sei deshalb die Aufnahme dieser "psychiatrischen Probleme" in "umweltmedizinische Curricula".

"Multiple Chemical Sensitivity, Schädigung durch Chemikalien oder Nocebo-Effekt", von Karl Walter Bock und Niels Birbaumer, Deutsches Ärzteblatt, 16. Januar 1998.

MCS ist eine psychische Erkrankung, die auf dem "Glauben .... vergiftet zu sein" basiert. Wie ein Placebo wirke dieser Glaube krankmachend – Noceboeffekt. Dies ergäbe sich als "Ausschlussdiagnose", wenn "toxische oder immunologische Ätiologien" ausgeschlossen seien, z, B. toxikologisch, wenn die Grenzwerte eingehalten seien. Die Therapie soll dann die Angst vor Chemikalien u.a. durch "häufige und anhaltende Konfrontation mit ... vermeintlichen Noxen ohne Vermeidungs- und Fluchtmöglichkeit" nehmen.


Wissenschaftlichkeit, Voraussetzungen, Kriterien

Die Antwort von Dr. Röttgers bestätigt den Verdacht, den der Text nahegelegte:
  1. Seine Ansichten basieren nicht auf praktischen Erfahrungen mit Umweltpatienten.
  2. Ihm ist die einschlägige Literatur seines ureigensten Fachgebiets als Psychiater und Umweltmediziner zur neuropsychologischen Toxikologie unbekannt.
  3. Für die empfohlene Therapie gibt es kein Beispiel eines Erfolgs.
Im Artikel werden, ohne dies ausdrücklich anzugeben, ausführlich allgemeine Beschreibungen von Wahnvorstellungen dargestellt und als Beispiel Umweltpatienten eingesetzt. Für dieses Verfahren kann er keine wissenschaftlichen Begründung nennen:


Ad 1:
Die wichtigsten Fragen werden pauschal mit der Empfehlung eines "exzellenten Übersichtswerks" ‚Psychiatrie’ von Prof. Tölle beantwortet. Dies ist ein Buch zur Examensvorbereitung – mit Repetitorium. Über Neuropsychologie findet sich ½ Seite, über toxische Syndrome keine Zeile, allerdings Ausführliches über Wahnvorstellungen.

Auch die Frage "Haben Sie die Patienten selbst untersucht?" soll lt. Röttgers im Tölle enthalten sein. Dies wirft ein Licht auf den Arbeitsstil und die Sorgfalt im Umgang mit Fakten.

Ad 2:
Für viele neurologische Funktionen stehen standardisierte Tests zur Verfügung. In den 80er Jahren wurden daraus sog. Test-Batterien entwickelt und validiert, um psychische, nichttoxische und toxische neuropsychologische Störungen zu unterscheiden. Wenigstens die Neurobehavioral Core Test Battery (NCTB) der WHO sollte allgemein durchgeführt sein, bevor man diagnostisch oder epidemiologisch Wahnvorstellungen thematisiert. Diese Batteries enthalten im übrigen bereits jene "Operationalisierung des Begriffs ‚Persönlichkeitsveränderung’", die Röttgers in seinem Schreiben fordert.

Ad 3:
Somit sind bereits die Voraussetzungen für Wissenschaftlichkeit nicht gegeben, nämlich Beispiele zu veri- oder falsifizierender Diagnostik und Therapie..


Die Generalthese des Artikels: "viele Patienten (klagen) über Störungen ...ohne dass auch bei sorgfältiger Untersuchung eine Belastung durch Noxen oder Allergene nachweisbar wäre.", setzt geeignete Tests voraus. Dies sind auf psychologischer Ebene jene Batteries, angewandt durch geübte Tester. Dies ist in Deutschland bisher unterblieben.

Prof. Birbaumer musste einräumen, dass keine Doppelblindstudie existiert, die seine These eines sogenannten "Noceboeffektes" als "Glaube, vergiftet zu sein" stützt ("Ich habe das nur vorgeschlagen"). Er schließt bei Einhaltung der Grenzwerte toxische Wirkungen aus und meint MCS-Patienten, die durch diesen Rost fallen, wie Angst- oder Panikpatienten behandeln zu können: Desensibilisierung durch zwangsweise Konfrontieren mit Giften.

Beide Autoren setzten voraus, was sie beweisen müssten, ohne praktische Erfahrung mit Patienten und ohne Kenntnisse der Literatur: Sie empfehlen Therapien, für deren Tauglichkeit nicht ein Beispiel existiert.


Fazit I

Seit der Erfindung des "Ökochonder" 1995 bestätigt sich die These eingebildeter Umweltsymptome als wissenschaftlich unbegründbar. Seit 1995 hätte sich in der Literatur ein gewisser Grundstamm von stützendem Wissen herausschälen müssen. Studien, die die These stützen, existieren aber nicht. Die Texte sind nichts als Umsetzung von Vorurteilen.

Soweit aus Eitelkeit oder anderen Motiven spekulative Texte präsentiert werden, ist dies intellektuelle Allotria. Soweit dies zu Experimenten mit Patienten führt, ist dies vorsätzliche Körperverletzung. Soweit dieser Unfug zum Grundwissen in umweltmedizinischen Curricula erklärt wird, ist dies die Durchsetzung eines allgemein durchzuführenden Kunstfehlers. Soweit aus Allotria strafbare Handlungen oder Schlimmeres entsteht, hat dies in starkem Maße das Deutsche Ärzteblatt zu verantworten, das durch den Abdruck jenen Texten Seriosität verliehen hat.


Rufmord statt wissenschaftlichem Diskurs

Wenn Unfug leicht als Wissenschaft ausgegeben werden kann, ist es ebenso leicht, Wissenschaft als unseriös zu diskriminieren. Dies ist das eigentlich Entscheidende. Durch planmäßige, öffentliche Diskreditierung soll verhindert werden, dass der Stand der Wissenschaft das Licht der öffentlichen Diskussion erreicht. Es handelt sich um systematische Desinformation. Im wirtschaftlichen Bereich hieße sie Betrug und wäre ein Delikt. Im persönlichen Bereich heißt so etwas Rufmord und ist ebenfalls strafbar. Diese hier ruiniert die Existenz vieler Menschen. Dennoch ist sie nicht strafbar. Es gibt dafür noch kein Wort: entweder klingen die zur Verfügung stehenden Begriffe zu harmlos oder sind historisch bereits belegt. (Der Verfasser setzt für die beste Begriffsbildung einen Preis aus).

In "Umweltmedizin in Forschung und Praxis" und den Kongressen der ISEM wird der Stand der Wissenschaft konsequent außen vor gelassen. In den Papers zur Vorbereitung des UBA-Forschungsprogramms MCS wird expressis verbis erklärt, es gäbe keine Literatur zu Diagnostik und Therapie. Was sonst so in der Diskussion sei, sei –ungelesen - als unwissenschaftlich abzulehnen.

Dr. Eis von RKI, der das MCS-Forschungsprogramm leitet, hat wohl erkannt, dass ein Schrifttum von über 10 000 Veröffentlichungen kaum auf Dauer versteckt werden kann. Er erklärt im Zentralblatt für Hygiene- und Umweltmedizin: es gibt eine seriöse Umweltmedizin und die Klinische Ökologie (CE, Clinical Ecology). Letztere wird ausführlich zitiert, allerdings unter sorgfältiger Aussparung der wissenschaftlich hochwertigen Studien – insbesondere der Doppelblindstudien -, um dann zu erklären, der CE komme nicht eine einzige wissenschaftliche Leistung zu. Um dies glaubhaft zu machen, wird etwa aus dem umfangreichen Schrifttum dasjenige herausgesucht, welches für Laien geschrieben wurde, um dann die Laienhaftigkeit der Darstellung ausführlichst zu kritisieren (S. 298). Es werden Symptome aus 11 Literaturstellen bunt zusammengewürfelt und in einer Tabelle vereinigt, ohne die gemeinten Erkrankungen auch nur zu nennen, um dann das Fehlen spezifischer Bezüge zu kritisieren (S. 299). Genauso dilettantisch ist der RKI-Fragebogen. Auf Seite 308 outet er sich schließlich: "Eine detaillierte Diskussion von Rea’s 2000 Seiten ... würde den Rahmen dieser Arbeit überschreiten". Die Kenntnisnahme der wissenschaftlichen Entwicklung der modernen Umweltmedizin der letzten zwei Jahrzehnte – Eis behandelt keine Inhalte, die nicht schon 1980 bekannt gewesen sind - sprengt also den Rahmen der ‚seriöse Umweltmedizin’ nach Eis – q.e.d.(quod erat demonstrantum – was zu beweisen war !).

Es gibt demnach eine seriöse Wissenschaft, über die wir von Eis ansonsten nichts erfahren, die keine umweltmedizinische Diagnostik und Therapie (aner)kennt und eine "dubiose" CE, die etwa Nahrungsmittel- oder Schimmelallergien heilen kann. Diese darf aber leider wegen mangelnder Seriosität nicht akzeptiert werden, wobei er aber konkret nur Verständnisschwierigkeiten äußert: die Methode sei "paradox" und nicht "plausibel"(S: 319). Das ist der Wissenschaftsbegriff nach dem die MCS-Forschung beim RKI ausgerichtet ist.

Der Autor will erkennbar diffamieren. Die von ihm monierten wissenschaftlichen Mängel erledigen sich mit dem Hinweis auf entsprechende Literatur, die er hätte lesen müssen. Für weitergehende diskreditierende Behauptungen, wie z.B. die CE "suggerierten den Patienten den Vergiftungsverdacht", kann er keine Anhaltspunkte nennen. Ohne jegliche Grundlage sattelt er entschlossen seine Rosinante. Doch in Gegensatz zu seinem spanischen Vorbild sind keine Ideale als Grundlage seines Handelns zu erkennen. Doch er ist – vielleicht gerade deswegen – erfolgreicher: Die Windmühlen drehen sich nicht mehr.


Fazit II

Seit Jahren kommt hier die Diskussion nicht voran, weil jene Schieflage von allen im Grundsatz akzeptiert wird. Da sich dbu, igumed, DGUHT etc. eher um Konsens bemühen, wird der Stand der Wissenschaft nicht adaptiert. Dafür gibt es ein modernes politisches Wort: Konsensfalle. Der Rückgang im Besucherinteresse bei Veranstaltungen dürfte eine Konsequenz aus diesem Verhalten sein. Auch Selbsthilfegruppen konnten erfolgreich desinformiert werden: Heinz A. Guth verbreitet, es gäbe keine "Diagnose- und Therapiemethoden für MCS".

So ist der notwendige Wissenstransfer absolut blockiert. Ein wissenschaftlicher Diskurs kann von vorneherein nicht entstehen. Deshalb findet sich in Papieren, die weitreichende Entscheidungen vorbereiten zum Thema ‚Umwelt und Gesundheit’ (Aktionsprogramm von BMU und BMG, Sondergutachten Sachverständigenrates für Umweltfragen, Stellungnahme des Büros für Technikfolgeabschätzung) praktisch nichts über die vorhandene Diagnostik und Therapie für Umweltkrankheiten. Stattfindende Forschung hinkt Jahrzehnte hinterher. Unter diesen Umständen wird sich in der Politik, bei den Sozialkassen und in der Rechtsprechung nichts ändern. All diese Entscheidungsebenen hängen davon ab, welcher Erkenntnisstand als Stand der Wissenschaft akzeptiert wird. Wenn man dieses alles entscheidende Thema den Hardlinern überlässt, muss man sich nicht wundern.


Literatur:

Eis, D.,
Clinical Ecology - an Unproved Approach in the Context of Environmental Medicine, Klinische Ökologie - eine inkonventionelle Richtung im Bereich der Umweltmedizin, Zbl. Hyg. Umweltmed. 202, S. 291-330, 1998/99

Röttgers, H.D.,
Psychisch Kranke in der Umweltmedizin, Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 13, S. 835-837, 31. März, 2000

Bock, K.W., Birbaumer, N.,
Multiple Chemical Sensitivity, Schädigung durch Chemikalien oder Nozeboeffekt, Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 3, S. 91 - 94, 16. Januar, 1998

Merz, T.,
Roots, Wurzeln der Umweltmedizin, Teil I: Allergologie, Immunologie, Nutritional Medicine, umwelt-medizin-gesellschaft 12, 2/99, S.
147 – 154, 1999

Merz, T.,
Roots, Wurzeln der Umweltmedizin, Teil II: Stoffwechsel, Entgifutung, oxidativer Streß, Psychometrik, phsykalische Schadensfeststellung
(SPECT, PET, EP,EM), umwelt-medizin-gesellschaft 12, 4/99, S. 315 –322, 1999

Auf der Auswahlseite MCS & Psyche finden sich Darstellung ( ) und Material zur Glaubhaftmachung, dass die "Psychothese" für MCS und andere Umweltkrankheiten nicht den Hauch einer wissenschaftlichen Begründung für sich reklamieren kann. Sie ist also nicht einmal eine Hypothese – dazu bedarf es ernstzunehmender Indizien – sondern grober Unfug.

Da dem u.a. durch den Abdruck im Deutschen Ärzteblatt Seriosität verliehen wurde, ist es im Umkehrschluss sehr leicht, die umweltmedizinische Diagnostik und Therapie pauschal – d.h. ungelesen – als unseriös abzudisqualifizieren. So findet seit Jahren der bitter notwendige Wissenstransfer nicht statt.

Um diese Blockade durchbrechen zu können, müssen sich genügend Menschen finden, die bereit sind, sich mit den Details (Argumenten) zu beschäftigen.

Meine Bitte: nicht gleich auf "antworten" oder gar auf "allen antworten" klicken, erst lesen. Zweitens überlegen, wen – Mediziner, Juristen, Journalisten, Politikern – kann ich dazu bringen, dies auch gründlich zu lesen. Es wird sich zeigen, dass die unterschiedlichsten Reaktionen kommen werden. Daraus lassen sich dann Schlüsse ziehen. Das Ziel ist eine sachliche Diskussion.

von Dr. Tino Merz
 
 
 
 
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